„Über das braune Moos ausgestreut lagen gelbe Dreiecke. Als ginge jemand am Ende des Wegs – da war niemand. Von oben ergießen sich azurblaue Glasscherben, auch hellgrüne. Die Luft bewegt sich, kältergeworden. Als habe jemand besorgt und erleuchtet die Wimpern aufgeschlagen.“
Jelena Guro
Vom Finden, Betrachten und dem So-Lassen der Dinge. Zu den Arbeiten von Stefanie Ullmann
Abstraktion und Einfühlung sind seit Wilhelm Worringers 1907 publizierter gleichnamiger Dissertation zwei Begriffe, die unlösbar miteinander verbunden erscheinen. Standen sich diese bei Worringer antagonistisch gegenüber – die Abstraktion (z. B. im keltischen Ornament) als Bezwingung der Natur einerseits und die Einfühlung in die Natur (z. B. in der Naturnachahmung) als eine lustvolle, identifikatorische Wahrnehmung der Welt andererseits –, hat Jutta Müller-Tamm 2005 in ihrem Buch „Abstraktion als Einfühlung“ herausgestellt, wie sich gegen Ende des 19. Jahrhundert die Einfühlungsästhetik als grundsätzlich neue Rezeptionsweise künstlerischer Hervorbringungen entwickelte. Einfühlung meint bei ihr die Entstehung einer subjektiv-individuellen Wahrnehmung, der Konstruktion der Welt im Gehirn des Rezipienten. Dies hat in der Moderne einen neuen, selbstbewussten Betrachter ebenso zur Folge, wie neuartige ästhetische Konzepte künstlerischer Produktion.
Vor diesem Hintergrund sind auch die ersten gegenstandslosen Tendenzen, die bekanntlich um 1910 in Europa aufkamen, zu verstehen: Abstraktion (teils im direkten Rückgriff auf Worringer) als Weltaneignung, intentionale Konstruktion oder weltenbauendes Prinzip oder aber: Abstraktion (im Sinne der Einfühlungsästhetik) als ein intuitives Vordringen zum natürlichen Wesen der Dinge, mit denen das künstlerische Subjekt eins wird und teils in einer Art von seherischem Prozess regelrecht verschmilzt.
Heute, über hundert Jahre nach Worringers Buch und einem ganzen Jahrhundert verschiedenster Ausprägungen abstrakter Malerei, ist die Frage nach Abstraktion und/oder Einfühlung allerdings anders gelagert: Ein allgemeiner Wahrheitsanspruch, wie ihn die Abstraktion – so oder so – bis weit in die 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein für sich reklamiert hat, kann heute nicht mehr ernsthaft erhoben werden. Dennoch hält das Arbeiten in der Gegenstandslosigkeit einen besonderen Zugang zur Welt bereit, da dieser immer noch bei ganz basalen Dingen wie Form, Farbe oder Material ansetzt.
Auch die gegenstandslosen Arbeiten von Stefanie Ullmann können im Kontext einer aktualisierten Form von Einfühlung betrachtet werden: Zum einen vermittelt sich durch die Leichtigkeit ihrer Bildfindungen eine formale Offenheit und auch zeitliche Unabgeschlossenheit, so dass ihre Arbeiten am ehesten als lose Konstellationen zu beschreiben sind. Schon dies wirkt jedem Absolutheitsanspruch entgegen. Die wenigen Farben und Formen auf ungrundierter Leinwand in ihren Ölbildern, die oft einfache geometrische Muster beschreiben, sind ebenso lapidar, wie ihre raumgreifenden Tableaus aus buntfarbigen geknickten Pappen ephemer. Ihre Bilder und Objekte verdanken sich dabei kalkulierten Gesten, die immer ein Moment des Zufälligen und des Nicht-Vorab-Bestimmbaren in sich enthalten. Das Verhalten der Form, ihre Reaktion auf Licht und Schatten, die Veränderungen, die sie durch Bewegung oder in Konstellation mit anderen Formen erfährt, all dies ist Ausgangspunkt und Endpunkt gleichermaßen. Einfühlung heißt hier auch, erstmal nicht allzu intentional, nicht allzu gewaltsam zu wollen oder dem Betrachter eine bestimmte Lesart aufzuoktroyieren, sondern die Arbeiten gleichsam als autonome Gebilde in ihr Recht zu setzen; sie beobachten, gegebenenfalls vorsichtig intervenieren, arrangieren, aber vor allem: so lassen. Aus dieser zurückgenommenen künstlerischen Haltung heraus, entstehen bei Stefanie Ullmann aus wenigen frei geführten Schnitten, Knicken und Farbstreifen Formen, die zwar vage an Sockel, Stellwände, Säulenschäfte, Podeste oder andere einfache Gebrauchsformen erinnern, es aber eben nicht sein müssen. Sie können auch nur Form bleiben. Als Bildfindungen – im wörtlichen Sinn – stehen sie letztlich für sich. Anders als eine Abstraktion im Sinne einer künstlerischen Einfühlung in das innere Wesen der Dinge, bleibt bei Stefanie Ullmann das Objekt immer Oberfläche, es bleibt Bild und Malerei. Einfühlung kann hier also nur meinen, dass der Betrachter, aber auch der Künstler selbst, sich nur subjektiv annähern können, denn, wenn überhaupt, kann nur im Flüchtigen und Veränderlichen, im Lapidaren und Zufälligen, in der Oberfläche und dem Schein das Reale noch ausgemacht werden.
Daniela Stöppel
(Text zur Ausstellung "Geplante Obsoleszenz", Tanzschuleprojects, 2012)
Magdalena Wisniowska
GiG air
SAUVAGE
Stefanie Ullmann
Orangerie
20. - 23.04.2023
I owe you the truth in painting and I will give it to you
Cézanne
“D’un seul pas franchi”
Derrida
The small problem of truth has been occupying me recently: the truth in painting, as promised by another
“sauvage raffiné,” Paul Cézanne. A long time ago, it took a painting by Vincent van Gogh, Old Shoes with
Laces (1886), for the German philosopher Martin Heidegger to recognise what this truth might be and for
him, the artwork became defined through its revelation of this truth. We now consider ourselves too
sophisticated to think that a painting of some worn-out shoes reveals something so profound about the
peasant woman’s being that there is no other way this can be grasped. And yet a little of this heideggerian
desire remains. I find we still look for truth in painting despite thinking it unlikely. Or at least, I do.
At the height of the pandemic Stefanie Ullmann would walk and run in the rose gardens at the Isar, in May,
when the magnolias are in bloom. These caught her attention - I remember how bright that spring was, and
how vibrant the greens. But again it took a painting by van Gogh, this time, Blossoming Almond Branch in a
Glass (1888) for her to begin painting from memory a series of small canvases with flowers. A second
series of watercolours followed. The oil paintings share van Goghs’ shimmering green-yellow palette as well
as his strong horizontal and vertical lines.
When I look at these paintings I find myself standing in Heidegger’s shoes. There is a truth in Stefanie
Ullmann’s work that has to do with his schematic definition. On the one hand he claims, art has long been
thought as formed matter, in other words as a “Zeug,” translated by Derrida as a “product,” more
commonly in English translations of Heidegger’s essay as “equipment.” And these paintings here, especially
the abstract ones, have this workman-like quality of being built, almost brick by brick, layer by layer.
Occasionally Stefanie Ullmann even uses a spatula like a masonry trowel. And yet, as Derrida in his
interpretation of Heidegger’s argument rightly notes, an artwork is more than a product or Zeug because it
does what no other product can - it resembles a thing, “Ding.” It is as if it were not produced. Thus, an
artwork is a product that is also more than a product, because it crosses over, steps into the realm of the
thing. In the same way, Ullmann’s paintings enjoy this self-sufficiency. Despite their lightness, they feel as
sturdy as earth or rock or tree, untouched by human hand.
The point of painting is - for Van Gogh, Heidegger, Derrida etc. - that this step crossing from thing to
product and back again occurs within. Painting shows how tightly things, Zeug and artworks interlace.
Silence
Silence steht für die sieben Bilder, die Stefanie Ullmann im RSTR4 zeigt. Ullmann hat sich auf diese Werke beschränkt und den Raum so gut wie gelassen, wie sie ihn vorfand. Bezieht man Silence auf die Voix du silence, die Stimmen der Stille, in denen André Malraux unter anderem das Das imaginäre Museum vorgestellt hat, dann gelangt man auf eine Plattform, von der aus sich die Landschaft entfaltet, in der Ullmanns Arbeiten einen vorläufigen Ort einnehmen. Für Malraux ist die Moderne der Schlüssel zu Epochen der Kunst, die uns sonst nicht zugänglich scheinen. Ullmann zeigt ihre Moderne dagegen vor einem Hintergrund, der sie auf den ersten Blick stört, weil er damit verwandt ist. Verwandt sind die Werte, die in Pompeji zur Konservierung jedes Putzfleckens führen, aber auch dazu, den Riß, den Fehler, den Schmutz oder den Zufall in der Malerei nicht nur hoch, sondern gar für entscheidend zu halten. Retrospektive und Prospektive, Ruine und offenes Kunstwerk haben verschiedene Ziele, sind aber vergleichbar als Mittel, sie werden beide genauso konkret wie abstrakt verstanden. Daher kann Stefanie Ullmann diesen mit Spuren gesegneten Raum nicht nur wie eine Ruine in einem James Bond-Film betreten, sondern zu einem neuen Mittel umbauen, welches die Gegenwart der Kunst, das, was Hans-Georg Gadamer Die Aktualität des Schönen nennt, von neuem erschließt. Eine der Arbeiten, Snowy von 2015, war bis zum heutigen Tag als Reproduktion im Maßstab 10:1 an der Kunstwand am Lenbachplatz in München zu sehen. Diese Wand steht frei im Raum, was Ullmann Anlaß gab, auch die Rückseite des Bildes zu zeigen. Im RSTR4 dagegen hat Ullmann das Original flach an die Wand gehängt. Die Fackel, die so von dem, was der öffentliche Raum heißt, an einen Projektraum weitergereicht wird, beleuchtet zuletzt eine Wand, die keineswegs alt ist. Clement Greenberg hat nicht aus Zufall von der Fläche als von einem Kennzeichen der Malerei in der Moderne gesprochen.
Berthold Reiß
(Text zur Ausstellung "Silence", rstr4, 2016)
Publication
BONJOUR MAGNOLIA, soloexhibition, 2023, Orangerie, munich
text by Stefanie Ullmann
Design: BüroBüro
edition of 50, 28 coloured pages, 2023
PRIMITIVE COOL,
Groupexhibition, 11.05.-12.05.2019, Sardenhaus, munich
conceptuated by Stefan Lenhart
with Anne Rössner, Martin Fengel, Wolfgang Stehle, Hedwig Eberle, Manfred Peckl, Sibylla Dumke, Michael Sailstorfer, Ursula Ponn, Lorenz Strassl, Martin Wöhrl, Sophie Schmidt, Stefanie Ullmann, Stefan Lenhart, Benedikt Hipp, Lisa Reitmeier, Tim Bennett
text by Daniela Stöppel
Graphicdesign: Atelier Noem Held
14 coloured pages, 2019
NEW FORMS OF BEAUTY, 01.03.-15.04.2018 Maximiliansforum, München + 04.05.- 30.05.2018 smolka contemporary, Wien
Groupexhibition with Stefan Lenhart, Frenzi Rigling, Michael Sailstorfer, Stefanie Ullmann, Claudia Wieser, Martin Wöhrl and more
Texts by Diana Ebster, Magdalena Wisniowska
26 pages, 2018
SNOWY,
includes the soloexhibition "silence" and art in public space "snowy"
texts by Berthold Reiss and Peter Adam
graphicdesign: Markus Dicklhuber
photography: Maximilian Rossner
24 pages, 2016
TANZSCHULEPROJECTS 2007-2012,
a documentation of over 25 groupexhibitions and soloexhibitions in munichs legendary offspace conceptualised by Stefan Lenhart
with texts by Daniela Stöppel, Dana Weschke, Stefan Lenhart, Tim Bennett, Manfred Peckl, Stefanie Ullmann
270 coloured pages, 2012